Artikelbild Die Evolution der Zusammenarbeit

von Christoph Zulehner

Warum vernetzte Kompetenz mehr ist als bloße Kooperation

Mehr als zehntausend Jahre waren die Menschen vor allem Rohstoffgewinner in einer Agrargesellschaft.

Ein rasanter Wandel setzte erst vor rund zweihundert Jahren ein, zunächst mit der Industrialisierung und der maschinellen Rohstoffverarbeitung. Seit rund 60 Jahren werden wir von der Digitalisierung beflügelt. Wir haben uns zu einer Dienstleistungsgesellschaft gewandelt.

Die Produktion von Wissen
1963 erscheint „Littel Science, Big Science“, ein Buch des angloamerikanischen Wissenschaftshistorikers Derek de Solla Price. Darin beschreibt er zum ersten Mal das Phänomen der „Wissensproduktion“. Sein Fazit: Wissenschaftliche Information wächst exponentiell. Aktuelle Einschätzungen gehen in der Gesundheitsbranche von einer Verdoppelung alle 1-2 Jahre aus.

Leben auf der Wissensscholle
Die Bewältigungsstrategie liegt auf der Hand: Es ist die Kombination von Spezialisierung und Vernetzung. Stellen Sie sich vor, das Wissen der Gesundheits- und Pflegebranche sei ein großes Meer, das unaufhörlich wächst. Nachdem wir als Individuen diesem Wachstum nicht entsprechen können, schwimmen wir mit unserem eigenen Wissen wie auf einer Scholle und es stellt sich die Frage, wie wir diese gestalten?
Eine Möglichkeit: als Allrounder-Scholle. Dies bringt uns allerdings auf dem Meer des Wissens zusehends in Schwierigkeiten. Denn Allrounder gestalten ihre Scholle breit und ausladend. Und das führt zu drei großen Problemen:

1.    Die ausladende Form erlaubt keine Verbindung mit anderen.
2.    Die Scholle ist schwer zu manövrieren und reagiert nur langsam.
3.    Die Scholle wird immer dünner denn Fläche geht immer auf Kosten der Dicke.

Allrounder stehen also auf dünnem Eis und werden auf dem Meer des Wissens ganz schnell verschwinden.

Wie aber sollte die Scholle aussehen, auf der wir unser Gewässer durchschwimmen, ohne in Gefahr zu geraten?
Einzig tauglich dafür ist die Experten-Scholle. Sie ist klein und ragt tief in den Wissensozean hinein. Diese Form lädt andere ein, mit uns in Kontakt zu treten, sich mit uns zu verbinden und gemeinsam die stürmische See zu bereisen. Natürlich: Schollen mit kleinem Durchmesser werden durchgeschüttelt und sind dem Wellengang ausgeliefert. Aber: Wenn Sie sich umsehen, wird klar: Es gibt auch viele andere Experten-Schollen, die nur darauf warten, gemeinsam auf Fahrt zu gehen. Und so wie es aussieht werden die Herausforderungen zusehends komplexer, die Wissensscholle muss also auch richtig gestaltet sein.

Grades and Skills
Zwei Aspekte machen Expert:innen aus: Zum einen brauchen wir „Grades“. Sie sichern die Legitimation und damit die notwendige Erlaubnis. Dabei geht es um anerkannte Ausbildungsgrade, aber nicht nur. Im Sog dieser Entwicklung entstehen auch unaufhörlich neue Spezialisierungen, die nicht zwingend einen eigenen „Grade“ brauchen: Zum Beispiel Hospital Play Specialists, Healthcare Robot Technicians oder Deep Learning Experts. Das sind keine Erfindungen: Bestimmte Grades erwerben wir nicht an Hochschulen. Wir müssen auch in Vorleistung gehen.
Denken Sie nur zwei Jahrzehnte zurück: Die ersten EDV-Spezialist:innen haben sich ohne Informatikstudium an die Sache herangewagt. Es waren enthusiasmierte, von der neuen Sache begeisterte Freaks. Und sie waren erfolgreich. Zeiten des Umbruchs bieten solche Chancen. Und wir befinden uns in einer Zeit großartiger Veränderungen.
Selbst für die Gesundheitsbranche gibt es dazu mittlerweile beeindruckend viele Publikationen. Zum Beispiel veröffentlichte der Healthcare Management Degree Guide eine Liste von 20 in Zukunft besonders nachgefragten nichtärztlichen Berufen. Darin angeführt sind sieben Spezialisierungen, die Pflegeberufen entsprechen.
Zum anderen brauchen wir Skills. Sie beantworten die Frage nach dem evidenzbasierten Wissen, den Fähigkeiten, Fertigkeiten, reflektierten Erfahrungen und der Intuitionsfähigkeit.
So wundert es nicht, dass zwei typische Wege zur Expertise führen. Zum einen der eher pragmatisch geprägte auf dem wir immer schon tun, bevor wir dürfen.
Zum anderen der von Legitimation geprägten Weg, auf dem nichts ohne Zertifikat begonnen wird. Durch die Ausbildungstrends der letzten Jahre wurde zunehmend dieser Weg beschritten. Daran ist nichts auszusetzen, vorausgesetzt er wird zu Ende gegangen.

In der Fahrschule lernen wir nachweislich nicht Autofahren. Wir erwerben einzig die Erlaubnis zu fahren. Um die notwendigen Skills zu entwickeln, müssen wir einsteigen und losfahren – mit allen damit verbundenen Risiken. Anders wird es wohl nicht gehen. „Erfahrung machen“ heißt „tun“: handeln, uns auf etwas einlassen. Dieses Tun beinhaltet auch die Möglichkeit, Fehler zu machen, denn: Nach dem Erwerb des Führerscheins nicht in ein Auto zu steigen, sondern sich stattdessen in die einschlägige Mobilitäts-Literatur zu vertiefen, wird das Fahrkönnen kaum verbessern.

Es wird Zeit, den Blick verstärkt auf zwei Dinge zu richten:

1.    Skills – und zwar gleichermaßen für Ausbildungen wie für Auswahlverfahren
2.    Grades – im Sinne der Pionierarbeit. Die Dienstleistungswelt braucht neue Professionen, neue Expert:innen und damit neue Grades.

So lassen sich künftig auch attraktive Job-Angebote legen.


Ko-Kompetenz
Dynamisches Wissenswachstum verlangt von Individuen neue Eignungen und von Unternehmen neue Organisationsformen. Ko-kompetente Systeme sind nur bedingt dauerhafte Strukturen, wie sie Unternehmen bislang waren. Größtenteils werden es ergebnisori¬entierte Flechtwerke sein, die mit einem gemeinsamen Ziel entstehen und mit dem Erreichen des Ziels auch wieder zerfallen können. Solche Know-how-basierten Organisationen brauchen, um erfolgreich zu sein, ganz neue Wirksamkeiten. Was könnten solche Wirksamkeiten sein, die in ihrer Verknüpfung Ko-Kompetenz ausmachen?

Subspezialisierung
Fachliche Fokussierung ist unumgänglich – mit all ihren Vor- und Nach¬teilen. Expert:innenwissen basiert auf einem breiten Grundwissen. Die Subspezialisierung selbst ist idealerweise abgesichert und beweisbasiert.

Couragiertheit
In ko-kompetenten Systemen bildet kalkuliertes Risiko eine we¬sent¬liche Befähigung für richtiges Verhalten: der Mut, kon¬ven¬tionelle Denkmodelle zu verlassen und neue Wege zu gehen.

Systemverständnis
Zum einen braucht es Kenntnis über den Aufbau ko-kompetenter Systeme. Zum anderen das Verständnis dafür, wo welche Wissensträger zu finden und mit wel¬chem Know-how sie ausgestattet sind.

Sprache
Entscheidendes Medium für ko-kompetente Systeme ist Information. Und Träger der Information ist Sprache, in all ihren Facetten und Anwendungen. Exaktheit in der Sprache als Mittel der Verständigung und des Wissensaustauschs.

Teilhabe
Ist die Fähigkeit, sich auf dem Meer des Wissens ohne Argwohn zu bewegen. Wechselseitiges Ge¬ben und Nehmen von Know-how fußt auf Vertrauen. Dieses bildet die Grundlage für die Entwicklung von kriti¬schem Reflexionsvermögen.

Redlichkeit
Funktionierende Gemeinschaften bauen auf Regeln auf. Besonders ko-kompetente Systeme sind daher auf die Aufrichtigkeit aller angewiesen. Dies betrifft wechselseitige Aufrichtigkeit genauso wie den Umgang mit dem im System verwendeten Wissen.

Diese Wirksamkeitejn und die dazu notwendigen Tools braucht es für die neuen Herausforderungen. Als Expert:innen des Wissens und Allrounder:innen der Vernetzung.
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Quelle: Mesh – Die Evolution der Zusammenarbeit. Warum vernetzte Kompetenz mehr ist als bloße Kooperation, September 2022, Springer Nature
https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-37818-9

 

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Name und Wohnort
Christoph Zulehner – Oberösterreich

Ich bin

Strategieberater von Gesundheits- und Pflegeunternehmen, Gesellschafter der goMed GmbH, Buchautor und Keynote-Speaker.

Expertise
Strategische Positionierung von Gesundheitseinrichtungen sowie Betriebsorganisation und Personaleinsatzplanung.

Ich schreibe

gerne Bücher.

Mit 80

lebe ich in OÖ auf unserem Bauernhof mit Schafen, Hühnern, Enten, Gänsen und einem Hund und baue vollbiologische Produkte an.

Website

www.christophzulehner.at

 

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