Artikelbild Epidemiegesetz und HeimAufG iFamZ 2020/212

von Michael Ganner

§ 3 HeimAufG; EpiG iFamZ 2020/212
Einzelisolierung ohne Absonderungsbescheid nach EpiG muss Zulässigkeitskriterien des HeimAufG einhalten; Verhältnismäßigkeit einer längerdauernden Isolierung und rechtliches Gehör (OGH 23. 9. 2020, 7 Ob 151/20m)

Die (insgesamt mehr als dreiwöchige) Einzelisolierung des Bewohners im Zimmer ist eine Freiheitsbeschränkung iSd § 3 Abs 1 HeimAufG. Ein fehlender persönlicher Eindruck des Gerichts vom Bewohner, seine unterbliebene Beiziehung zur Verhandlung, die Durchführung der Verhandlung bei Gericht und nicht in der Einrichtung sowie die unterbliebene Einholung eines Pflegegutachtens oder eines medizinisch-psychiatrischen Gutachtens bilden mangels Entscheidungsrelevanz dann keinen noch in dritter Instanz aufgreifbaren Gehörverstoß oder Verfahrensmangel, wenn allein das Risiko einer COVID-19-Infektion und die dafür zur Verfügung stehenden Präventionsmöglichkeiten in einer höchst gefährdeten Einrichtung durch ein internistisch-infektiologisches Gutachten geklärt sind.

In einer Einrichtung mit betagten Bewohnern und einem damit erhöhten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf nach einer COVID-19-Infektion kann die Einzelisolierung eines Bewohners eine nach § 4 HeimAufG zulässige Freiheitsbeschränkung sein. Dies ist der Fall bei einem Bewohner, der Betreuung und Begleitung bei allen Aktivitäten des täglichen Lebens benötigt, nach dessen Infektionsverdacht und einem ungeschützten Außenkontakt bei einer Sicherheit des Negativtests von nur 32–63 % für einen Zeitraum von 14 Tagen ab der letzten Infektionssymptomatik. Der Bewohner leidet an einer schweren Demenz vom Mischtyp MMSE 22/30. Er hat kognitive Defizite, ist Tag und Nacht desorientiert und bedarf permanenter Betreuung und Begleitung bei allen Aktivitäten des täglichen Lebens. Aufgrund seiner Demenz ist der Bewohner nicht in der Lage, dem Gang einer Verhandlung zu folgen. Der Bewohner wurde nach einem stationären Aufenthalt im S [Anm: Krankenanstalt] mit einem am 25. 3. 2020 vorgenommenen, negativen COVID-19-Test am 30. 3. 2020 in der Einrichtung aufgenommen. Am 3. 4. 2020 wurde der Bewohner aufgrund von Fieber wegen COVID-19-Verdachts vorübergehend neuerlich ins S transportiert. Der dort durchgeführte COVID-19-Test verlief wieder negativ, sodass er noch am selben Tag in die Einrichtung zurückgebracht wurde. Während des Transports erhielt der Bewohner keinen Mund-Nasen-Schutz angelegt. In der Einrichtung wurden in der Zeit vom 30. 3. bis 21. 4. 2020 beim Bewohner über ärztliche Anordnung folgende zwei Maßnahmen durchgeführt: Es erfolgte eine Einzelbetreuung und Isolierung in seinem Zimmer, um der Nichteinhaltung der Quarantäne und der Mindestabstände zu begegnen. Sobald der Bewohner die Quarantäne nicht einhielt und sein Zimmer verlassen wollte, wurden vom Pflegepersonal klärende Gespräche geführt und der Bewohner in sein Zimmer geführt. Diese Maßnahme wurde nach einem aufgrund eines Fieberschubes durchgeführten negativen COVID-19-Test am 8. 4. 2020 und einem weiteren negativen Test am 21. 4. 2020 an diesem Tag beendet. Zusätzlich wurde im genannten Zeitraum eine Sensormatte vor dem Bett des Bewohners angebracht, weil er einen hohen Bewegungsdrang zeigte und sturzgefährdet war. Die Matte diente einerseits dazu, der Sturzgefährdung entgegenzuwirken und andererseits zur Information des Pflegepersonals, dass der Bewohner den Quarantänebereich verlassen möchte und dabei aus dem Bett gestiegen oder gestürzt war und allenfalls versucht, sein Zimmer zu verlassen. Der hohe Bewegungsdrang des Bewohners zeigte sich durch häufiges Verlassen des Zimmers und den Eintritt in den unmittelbaren Nahebereich anderer Personen. Die Mindestabstandsregeln konnte der Bewohner nicht einhalten. Das Tragen einer Mund-Nasen-Schutz-Maske tolerierte er nur wenige Sekunden, anschließend entfernte er die Maske. Aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen konnte er die Maßnahmen der Quarantäne ebenso wenig erfassen wie die Notwendigkeit der Einhaltung eines Mindestabstands zu anderen Personen und die Notwendigkeit, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. (…)

Das Intervall zwischen Infektion und ersten Symptomen konnte bei COVID-19 nach dem seinerzeitigen Kenntnisstand bis zu 14 Tage betragen. Es war daher zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung eine 14-tägige Isolation nationaler und internationaler Standard. Der Nachweis von COVID-19 ist zwar zuverlässig, doch es kann zu falschen negativen Testergebnissen kommen. Entscheidend ist dabei die Untersuchung zum optimalen Zeitpunkt. Selbst bei Patienten mit gesicherter COVID-19-Infektion ist nur bei 32–63 % aller Proben aus dem Nasen-Rachenraum, wie diese auch beim Bewohner vorgenommen wurden, tatsächlich das Virus nachweisbar. (…)

Die Meldung der Freiheitsbeschränkungen an den Verein erfolgte am 15. 4. 2020. Der Verein begehrte mit einem später modifizierten Antrag vom 17. 4. 2020, die am Bewohner ab 30. 3. 2020 vorgenommenen Freiheitsbeschränkungen, und zwar die Einzelisolierung im Zimmer, für formell und materiell und die Verwendung einer Sensormatte (nur) für formell unzulässig zu erklären. Der Einrichtungsleiter beantragte die Abweisung dieser Anträge und führte insb aus, dass in besonders schutzbedürftigen Einrichtungen bei Neuaufnahmen oder Krankenhaustransferierungen Maßnahmen wie Quarantäne die einzig wirksame Möglichkeit seien, um einer Virusverbreitung zu begegnen. Das Erstgericht sprach – nach einer im Gerichtsgebäude, nicht in der Einrichtung und ohne Beisein des Bewohners durchgeführten Verhandlung – aus, (Pkt 1.) dass die am Bewohner von 30. 3. bis 15. 4. 2020 vorgenommenen Freiheitsbeschränkungen a) durch Einzelisolierung im Zimmer sowie b) durch Anbringen einer Sensormatte formell unzulässig und (Pkt 2.) dass die zuvor genannten Maßnahmen von 30. 3. bis 21. 4. 2020 materiell zulässig waren. Rechtlich war das Erstgericht zusammengefasst der Ansicht, dass die am Bewohner vorgenommenen Freiheitsbeschränkungen aufgrund unterbliebener Meldung bis 15. 4. 2020 formell unzulässig, als unbedingt notwendige Maßnahmen zur Infektionsprävention aber für den gesamten Zeitraum materiell zulässig gewesen seien.


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Ao. Univ.-Prof. Dr. Michael Ganner
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