von Julia Reiter, M.Sc.

Ein Jahr Corona-Pandemie – was macht das mit den Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens, und was könnte man für sie tun?

Diese Frage untersuchen Forscher*innen der Privaten Fachhochschule Göttingen und der Universitäten Wien und Osnabrück in einer aktuellen Studie. Sie versuchen, herauszufinden, wie es um die psychische Belastung von Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens bestellt ist, woran das liegt, und wie man Ihnen Unterstützung anbieten könnte.

Die Pandemie und das plötzliche Interesse für die Pflege
Kürzlich jährte sich der Beginn der Corona-Pandemie. Was anfangs vielfach abgetan wurde, führte im März 2020 rasant zu Lockdowns, Grenzschließungen und massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens rund um die Welt. Damit einher ging plötzliches mediales Interesse an überarbeitetem und bisweilen traumatisiertem ärztlichem und Pflegepersonal. Bilder von Pflegern und Pflegerinnen mit tiefen Augenringen, müdem Blick und Abdrücken von Schutzausrüstung gingen um die Welt, und viele fragten sich, ob sie für diese Menschen etwas tun könnten, außer zu applaudieren.

In dieser Situation entstanden einige ehrenamtliche Hilfsprojekte, so auch ein Versuch der drei Psycholog*innen Stephan Weibelzahl (PFH Göttingen), Gesa Duden (Universität Osnabrück), und Julia Reiter an der Universität Wien (ich), dem überlasteten Personal im Gesundheitssektor kostenlose psychologische Unterstützung anzubieten. Schließlich richteten wir eine von entsprechend geschulten ehrenamtlichen Psychologie-Masterstudierenden besetzte Telefonhotline ein – „Talk2Us“. Inzwischen war es Sommer 2020 und als wir so weit waren stellten wir fest: niemand rief an.

Unterstützung anbieten – aber wie?
Natürlich fragten wir uns, woran das liegen könnte. Die erste Welle der Pandemie schien vorbei, die Sommermonate schienen ruhig - konnte es sein, dass sich die Lage einfach entspannt hatte und die Mitarbeiter*innen in Gesundheitsberufen nicht mehr besonders belastet waren? Oder passte das Angebot so einfach nicht zu den Bedürfnissen? Um mehr Informationen zu gewinnen, starteten wir eine erste Studie in Deutschland. Daran nahmen 300 Personen aus Gesundheitsberufen teil, davon knapp die Hälfte aus dem Pflegebereich.

Die Belastung ist groß, aber…
Die Ergebnisse brachten etwas Klarheit: Es zeigte sich, dass Personal im Gesundheitssektor im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung überdurchschnittlich stark psychisch belastet war. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung berichteten die Studienteilnehmer häufiger von stärkeren Symptomen wie Essstörungen, somatoformen Störungen, Zwangssymptomen, Depression und Angststörungen während der Pandemie. Auffällig war, dass gut ein Drittel (34,6%) während der Pandemie mittlere bis schwere Depressionssymptome entwickelte, in der Allgemeinbevölkerung lagen vergleichbare Werte bei 18,5%. Gänzlich frei von depressiven Symptomen blieb beim medizinischen Personal nur knapp jeder bzw. jede Fünfte (18%), während der Anteil in der Allgemeinbevölkerung bei 42,3% lag.
Bei den Angststörungen waren die Unterschiede zwischen Gesundheitspersonal und der Allgemeinbevölkerung ebenfalls unerwartet groß. 16,7% des Gesundheitspersonals erzielte mittlere bis schwere Werte auf der Angststörungsskala, in der Allgemeinbevölkerung waren es nur 10,6%. Nur gut die Hälfte (52,3%) der Studienteilnehmer zeigten überhaupt keine Symptome, in der Allgemeinbevölkerung liegt dieser Wert bei immerhin 70,7%. Vorherige Studien hatten gezeigt, dass die pandemie-bedingten Einschränkungen und Unsicherheiten zu einer ungewöhnlich hohen psychischen Belastung der Allgemeinbevölkerung beitragen. Personen, die im Gesundheitssektor arbeiteten, zeigten eine noch deutlich darüber hinausgehende Belastung. Die am häufigsten angegebenen Gründe für diese erhöhte psychische Belastung waren Sorgen, eigene Familienmitglieder zu infizieren, gefolgt von den Einschränkungen im Patientenkontakt.

Allerdings: Selbst die schwer Belasteten gaben kaum Bereitschaft an, sich psychologische Unterstützung zu holen. Rund 60 % der Befragten mit Symptomen von psychischen Störungen gaben an, keine Hilfe für den Umgang mit dieser Belastung in Anspruch nehmen zu wollen. Als Gründe hierfür nannten die befragten Gesundheitsfachkräfte zum Beispiel, dass sie das Gefühl hätten, andere bräuchten solchen Hilfen dringender als sie selbst, sie seien nicht so schwer belastet wie andere oder sie hätten bereits genug Unterstützung im sozialen Umfeld. Andere gaben an, dass ihnen schlicht die Zeit fehle, ein Hilfsangebot in Anspruch zu nehmen.

Die Studie ist hier veröffentlicht und frei zugänglich: Weibelzahl, S., Reiter, J., & Duden, G. (2021).

 

Vergleich des Anteils von Personen mit mittlerer oder starker Symptombelastung aus drei Stichproben: Allgemeinbevölkerung vor der Pandemie (N=2512; Tritt et al., 2010); Allgemeinbevölkerung während der Pandemie (N=1744; Schelhorn et al., 2020); Gesundheitspersonal während der Pandemie (N=300)


Aktuelle Studie
Diese Erkenntnisse möchten wir mit unserer aktuellen Studie in mehreren Punkten erweitern. Zunächst streben wir diesmal eine größere Stichprobe an; wir möchten Daten aus Deutschland und Österreich sammeln und mehrere verschiedene Berufsgruppen zur Teilnahme bewegen. Je mehr Personen an einer Umfrage teilnehmen, desto aussagekräftiger sind die Ergebnisse.

Zudem möchten wir untersuchen, wie sich die Belastung in der dritten Welle im Vergleich zum Beginn der Pandemie verändert hat – hat sich eine gewisse Routine eingespielt, oder ist die Belastung sogar noch größer, weil die Erschöpfung zunimmt? Schließlich möchten wir mehr darüber erfahren, ob und wie man dem Personal im Gesundheitswesen psychologische Unterstützung anbieten könnte. Dazu möchten wir einerseits mehr darüber herausfinden, was belastete Personen davon abhält, Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, und andererseits einige Fragen dazu stellen, wie ein solches Angebot aussehen müsste, um zu den Bedürfnissen verschiedener Berufsgruppen zu passen. Denn die Planung eines erfolgreichen Hilfsangebotes, wie überhaupt die Planung von Maßnahmen, die die Situation einer Gruppe verbessern sollen, kann nur gelingen, wenn die Betroffenen mit einbezogen werden und ihren Anliegen Gehör verschaffen können. Auch aus sozialpolitischer Sicht halten wir Forschung zu diesem Thema deshalb für unverzichtbar und sind für die Teilnahme jedes und jeder Einzelnen dankbar!

Die Umfrage dauert ca. 15 Minuten und ist hier zu finden: zur Umfrage

Weitere Informationen finden Sie auf der Projektseite.

Julia Reiter, MSc Bsc BA
Universität Wien

Fakultät für Psychologie der Universität Wien
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